Boston // East Broadway
Sie hatten nicht um Schutzgeld gebeten, trotzdem zahlte er. „Gratis-Cola für alle“, flehte er, „nur bitte, bitte, hört endlich auf.“ Sie nahmen die Cola und machten weiter.
Sie, das sind „kleine Terroristen“, „Unruhestifter“ oder „Unschuldsengel“, je nachdem wer spricht. Sie, das sind Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren, sie leben in South Boston im US-Bundesstaat Massachusetts. Früher wohnten in dem Stadtteil vor allem Arbeiter, heute folgt Biergarten auf Café auf Nagelstudio. Die Mieten steigen. Jetzt, im Sommer, fahren hin und wieder Geländewagen über die Hauptstraße, den East Broadway, an den Bushaltestellen schmiegen sich Wartende an Hauswände, bloß raus aus der Sonne. Jugendliche sieht man nirgends.
Er, das ist Geschäftsmann Abu, 45 Jahre ist er alt. Abu ist klein, trägt Brille und spricht Englisch mit starkem Akzent, obwohl er vor fast einem Vierteljahrhundert von Bangladesch in die USA gezogen ist. Er wiederholt geduldig seine Sätze und lächelt Fehler weg.
Vor mehr als zehn Jahren hat er am East Broadway einen Kiosk übernommen, er verkauft „Boston Globe“, „New York Times“, Schokoriegel, Kaffee, Cola und Eis aus dem Automaten. Glaubt man Abu, dann helfen die Automaten den Kindern, leere Nachmittage zu füllen. Glaubt man Abu, dann drücken sie ständig auf die Knöpfe und lassen solange Cola in den Abschluss fließen, das Eis, den Kaffee, bis ein Mitarbeiter sie stoppt. Nicht, weil sie es trinken wollen, sondern weil es Spaß macht. Oder, wie Abu sagt: „Ohne Grund.“
Er habe mit Eltern gesprochen, sagt Abu, mit Lehrern und der Polizei. Die Polizei habe gefordert: „Verrate du uns, wie wir das Problem lösen sollen.“ Warum sie nicht mit den Eltern reden, fragte Abu. Das würden sie tun, habe der Polizist gesagt. Die Eltern aber würden nicht fragen: „Was hat mein Kind angestellt?“ Sondern: „Warum belästigen Sie mein Kind?“ Das Problem, sagt Abu, seien Mutter und Vater, nicht Sohn und Tochter. Manche Eltern neigen nun mal dazu, in jeder Lausbubentat einen Geniestreich zu vermuten und vergessen dabei, ihre Kinder zu erziehen.
Bei der Polizei kann sich heute niemand mehr an das Gespräch von damals erinnern. Auch gebe es in den Akten keine Berichte über Kinder, die Ladenbesitzer terrorisieren. Immerhin hängt nur ein Geschäft weiter, ein Friseur, ein Schild in der Tür: Es untersagt Kinder unter 16 Jahren den Zutritt, es sei denn ein Erwachsener begleitet sie. Kinder würden immer wieder etwas fallen lassen, sagt eine Mitarbeiterin. „Und wer zahlt das dann?“
Irgendwann, vor acht Jahren etwa, habe ein Polizist ihn auf eine ähnliche Idee gebracht: Warum er nicht einen Zettel in die Tür klebe? Das hat Abu getan, erst verbot er Kindern in etwas ungelenkem Englisch, den Laden zu betreten, später formulierte eine Kundin für ihn: „Sorry, no more than two kids allowed at a time in the store unless accompanied by parent or guardian.“ Was Gratis-Cola nicht zu bewirken vermochte, schaffen seitdem klare Worte: Abu hat endlich Ruhe.
Dabei, sagt Abu, habe er nichts gegen Kinder, nein, er liebe sie sogar sehr.
Haben Sie selbst Kinder?
„Ja, zwei. 6 und 17 Jahre alt.“
Machen die auch manchmal Ärger?
„Nein. Nie! Ich bin ein stolzer Vater.“
Er kann gar nicht mehr arbeiten. Ständig steht die Polizei in seinem Geschäft und sucht Hakenkreuze. So liest sich der Zettel, den der 53-jährige Herr S. in sein Geschäft gehängt hat. Nervig seien diese Besuche, sagt er. „Kinderkram.“
Mehr als sein halbes Leben verkauft er schon Antiquitäten, früher in Frankfurt am Main und Umgebung, vor ein paar Jahren dann zog er nach Mecklenburg-Vorpommern. Während eines Urlaubes hatte er sich in Warnemünde verliebt. Das Meer, die Möwen, die liebevoll restaurierten Häuser.
In eines dieser Häuser zog er auch mit seinem Antiquitätengeschäft. Es sei nicht leicht gewesen, was zu finden, erzählt er. Der erste Makler habe gefragt: „Sie kommen nicht aus Warnemünde? Dann bekommen Sie ohnehin keinen Fuß in die Tür.“ Aufgelegt.
Er fasste Fuß. Bis zu 450 Kunden kämen im Sommer, zur Hochsaison, in sein Geschäft, drei kleine Zimmer plus Flur. Sie schauen sich die alten Vasen an, die Münzen, die Bilder, manche staunen über seine Lego-Figurensammlung, keine Antiquität, läuft aber trotzdem. Und hin und wieder besuchen ihn auch jene Kunden, die sich für den zweiten Weltkrieg interessieren. Ein alter Herr komme regelmäßig aus Hamburg, erzählt der Händler. Der Mann wisse, dass er im Laden Sammlerstücke finde.
Die alten Ausgaben des „Völkischen Beobachters“ beispielsweise, der Zeitung der NSDAP. Oder diese Postkarte: darauf Teile des damaligen Reiches, inklusive Sudetenland, das die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen an Deutschland abtreten musste. Darunter der Text „Wir danken unserm Führer“. Die Hakenkreuz-Symbole auf der Postkarte hat Herr S. abgedeckt, schließlich ist es in Deutschland verboten, „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ öffentlich zu verwenden. Herr S. hält sich an Gesetze.
Hat er nicht trotzdem Bedenken? Mit den Überbleibseln der Nationalsozialisten Geld zu verdienen? Wenn die Karten, die Orden, die Zeitungen in falsche Hände geraten? An Rechtsradikale? Und überhaupt: Wie lebt es sich mit dem Verdacht, selbst mit Rechtsradikalen zu sympathisieren?
Herr S. antwortet leicht genervt auf solche Fragen. Er ist Geschäftsmann. Er möchte seinen Kunden etwas bieten, allen Kunden. Der eine sammelt Lego-Figuren, der andere hat einen Führer-Fetisch. Er selbst, betont Herr S. glaubwürdig, habe mit Rechtsradikalen nichts zu tun. Er lebe nun mal von Antiquitäten, und Hitler gehöre zur deutschen Geschichte.
Das schrieb er auch auf diesen Zettel, den er Ende Oktober an seine Ladentür gehängt hat. Ein paar Tage zuvor habe ihn die Polizei im Geschäft besucht, jemand habe sich beschwert über die Führer-Postkarte. Angezeigt hat ihn allerdings niemand. Auch davor habe es gegen ihn bislang nur eine Anzeige wegen Nazi-Überbleibseln gegeben, sagt die zuständige Polizei.
Die Beamten stehen also nicht ständig in seinem Laden. Herr S. übertrieb ein wenig, als er den Zettel schrieb. Vielleicht weil er so wütend war, dass ihn zum zweiten Mal jemand angeschwärzt hatte. Vielleicht weil er Geschäftsmann ist. Denn er sagt: Ganz Warnemünde spreche über seinen Zettel. „Eine bessere Werbung gibt es nicht.“